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Rez. B. Frings u.a.: Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche

*Übernommen von H-Soz-Kult*

Frings, Bernhard; Großbölting, Thomas; Große Kracht, Klaus; Powroznik, Natalie; Rüschenschmidt, David, Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945. Freiburg 2022: Herder Verlag, ISBN 978-3-451-38995-5; 589 S.; € 50,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Ute Gause, Lehrstuhl für Reformation und neuere Kirchengeschichte Evangelisch-Theologische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum

Der Band bietet eine umfassende Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster seit 1945. Nach der wissenschaftlich umstrittenen MHG-Studie (Mannheim, Heidelberg, Gießen) aus dem Jahr 2018[1] hat sich die Deutsche Bischofskonferenz der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs umfassend angenommen.[2] Der vorliegende Band ist einer der ersten wissenschaftlichen Ergebnisse und insofern eine Pionierarbeit der historischen Aufarbeitung.

In der zur Einleitung gehörenden Hinführung spricht Thomas Großbölting von 183 Priestern, zwölf Ordensbrüdern und einem Ständigen Diakon sowie von 601 Betroffenen, die ermittelt werden konnten. Klaus Große Kracht erklärt, dass der Missbrauchsbegriff vom Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) übernommen wurde und dass die Studie von dem Willen getragen ist, den betroffenen Personen „öffentlich, institutionell und privat Gehör zu schenken“ (S. 14). Als grundlegendes Versagen wird das Fehlen von ausreichenden Schutz- und Kontrollmechanismen genannt sowie das Schweigen verantwortlicher Personen wie Eltern oder pastorale Mitarbeitende, aber auch Kirchenleitende, die nicht aktiv geworden sind. Betont wird, dass eine rein rechtliche Betrachtung und Aufarbeitung nicht ausreicht, weil damit nur Personen zur Rechenschaft gezogen werden können, von denen etwas Schriftliches vorliegt. Andere Beteiligte, die solche Spuren geschickt nicht hinterlassen haben, bleiben unbehelligt. Zudem sind auch die Aktenüberlieferungen verklausuliert oder rudimentär. Nicht zuletzt deswegen wurden für die Untersuchung ca. 60 Betroffeneninterviews geführt.

In zwölf Fallstudien (Teil 1) bzw. individuellen Fallgeschichten und quantitativen Befunden zu den 196 Beschuldigten (Teil 2) werden die Beschuldigten dargestellt, Teil 3 widmet sich den Betroffenen, Beschuldigten, Vertuschern und anderen Akteuren, Teil 4 behandelt „Pflichtenkreise“ und ihre Verletzung, womit die Oberaufsicht der Bischöfe gemeint ist. Alle Autor:innen schließlich haben das Fazit gemeinsam verfasst.

Das Spektrum der Fallstudien umfasst den Zeitraum von 1945 bis zum Jahr 2020 in unterschiedlichen Bistumsregionen. Mehrheitlich sind minderjährige Jungen die Opfer, aber es gibt auch weibliche Betroffene. Häufiger fanden die Taten im Rahmen bzw. Umkreis der Beichte statt. Das Gefälle zwischen Kleriker und Laien, zwischen der sakralen Autorität des Priesters und den Jungen – z.T. Kinder im Alter von unter 14 Jahren – , meist Messdiener, verunmöglichte häufig lange Zeit das Sprechen über den Missbrauch oder führte dazu, dass den Opfern nicht geglaubt wurde. Dem sexuellen Missbrauch ging häufig eine „starke religiöse und spirituelle Rahmung“ (S. 196) voraus.

Die Bistumsverantwortlichen ermöglichten den Tätern Therapien, Kloster- oder sogar Auslandsaufenthalte; sie versetzten die Priester „ohne jegliche Kontrollmaßnahmen, so daß es letztlich zu weiteren Taten kommen konnte“ (S. 262). Immer wieder gab es Verschleppungen der Aufarbeitung und einer Bestrafung durch Bistumsverantwortliche, die offensichtlich ihre Institution schützen wollten.

Die quantitativen Befunde (Teil 2) sind zu relativieren, da das Dunkelfeld nicht einschätzbar ist. Im Hinblick auf die Frage, ob zölibatär lebende Priester häufiger als andere Männer zum sexuellen Missbrauch neigen, wird keine klare Antwort gegeben: Einerseits wird aus den vorliegenden Ergebnissen abgeleitet, dass sexueller Kindesmissbrauch unter katholischen Priestern nicht verbreiteter sei als in der Allgemeinbevölkerung (vgl. S. 271f.); andererseits wird der Psychiater Jörg Fegert zitiert, der von der Personengruppe der Priester aussagt, dass von ihnen eine „signifikant höhere Gefährdung“ (S. 272) ausgehe. Drei Viertel der Betroffenen sind männlichen, etwa ein Viertel weiblichen Geschlechts – damit sind Jungen im Vergleich zur Gesamtgesellschaft überproportional häufig betroffen. Dass 56% der Betroffenen eine enge Kirchenbindung hatten, überrascht nicht; häufig ergab sich der Missbrauch aus einer Messdienertätigkeit. Gleichzeitig erklärt diese Kirchenbindung, warum viele der Jungen es zunächst nicht wagten, über ihre Missbrauchserfahrungen zu sprechen. Priester waren Respektspersonen und die kirchliche römisch-katholische Sexualmoral rigide, insofern trat mit dem Missbrauch etwas Undenkbares ein, und die Opfer entwickelten selbst Schuldgefühle (nämlich 81% der Betroffenen, davon bekamen zudem 90% Depressionen und 42% hatten Suizidgedanken). Fast die Hälfte der Betroffenen meldete ihren Missbrauch erst nach mehr als 30 Jahren beim Bistum. Meist veranlasste erst die mediale Diskussion des Missbrauchs in der katholischen Kirche ab 2010 die Betroffenen sich zu melden. In den Akten der Bistumsverantwortlichen sind nur wenige Vermerke zu sexuellem Missbrauch. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass das Wissen davon verbreiteter war. Letztlich gab es keine Systematik der Aktenführung und des Vorgehens für solche Fälle, die als Individualfälle betrachtet wurden. So kam es dann auch in 38% der Fälle zu keinen erkennbaren zeitnahen Interventionen gegen die Beschuldigten. Erst ab dem Jahr 2010 etablierten sich strukturierte Vorgehensweisen.

Teil 3 untersucht zunächst Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch. Häufig traf es Kinder aus „vulnerablen Gruppen“ (S. 323): Waisen, Geflüchtete und Kinder, die zu Hause misshandelt wurden – sie alle wurden bewusst durch Täter manipuliert. Als Tatkontexte werden die Gemeinde und die kirchliche Jugendarbeit genannt und innerhalb des seelsorglichen Vollzugs die Beichte, die bis 1980 regelmäßiger Bestandteil der Glaubenspraxis bei praktizierenden Katholik:innen war. Darüber hinaus geschahen Übergriffe in schulischen Einrichtungen, Internaten, Heimen und Sozialeinrichtungen. Zudem spielten familiäre oder quasi-familiäre Kontexte eine Rolle: Entweder weil Verwandte von Betroffenen Priester waren oder indem die Priester familienähnliche Kontakte herstellten, zum „Onkel Pastor“ (S. 348) wurden. Zudem nutzten Priester als Seelenführer ihr spirituelles Vertrauensverhältnis gegenüber Priesteramtsanwärtern oder in Orden und geistlichen Gemeinschaften aus.

Die Betroffenen entwickelten notgedrungen eigene Strategien der Aufarbeitung. Individuelle und die institutionelle Aufarbeitung fallen nicht in eins. Es sind die Betroffenen, denen es gelingt, das Schweigen zu brechen und dadurch eine Bewältigungsstrategie zu finden, ihre Sprachfähigkeit zurückzugewinnen. Die von der Deutschen Bischofskonferenz eingerichteten Stellen, um „freiwillige Leistungen“ in Anerkennung des erlittenen Leids zu zahlen, waren für Betroffene zum Teil retraumatisierend, weil sie erneut detaillierte Angaben zum erfahrenen Missbrauch machen mussten (vgl. S. 371). Mit der Anerkennung ist zudem keine förmliche Feststellung der Schuld der Täter verbunden. Meist wurden die Missbrauchstaten weder kirchlich noch strafrechtlich verfolgt. Ein eigenes Kapitel arbeitet das kirchenrechtliche und theologische Amtsverständnis des katholischen Priesters auf, der qua Amt nicht nur den Laien übergeordnet ist, sondern durch das Sakrament der Weihe „Anteil an der Vollmacht Jesu Christi“ hat und diesen vertritt. Genau diese Überhöhung ließ und lässt sexuelle Verfehlungen von Priestern zunächst als etwas völlig Undenkbares erscheinen, jedenfalls für die gläubigen Gemeindemitglieder der katholischen Kirche. Diese „quasi-sakrale“ Rolle kann für Anbahnung und Vertuschung sexuellen Missbrauchs in Anspruch genommen werden. Problematisiert wird in der Darstellung auch die Priesterausbildung, in der trotz Zölibat Sexualität und sexuelle Neigungen Raum einnehmen – Homosexualität in Priesterseminaren war wohl ein offenes Geheimnis –, dabei allerdings ständig tabuisiert sind; von einer rigiden „klerikalen Keuschheitsethik“ (S. 387) kann jedenfalls nicht die Rede sein. Der Zölibat und das Priesterideal lassen an die Stelle einer eigenen Familie die Mitbrüder und den Bischof als Familienersatz erscheinen, die sich gegenseitig unterstützen – daraus erklärt sich auch zu einem Teil die Vertuschung und/oder Verharmlosung des sexuellen Missbrauchs durch Bischof und Mitbrüder, die sich in Solidarität mit dem Täter übten. Ein weiteres Kapitel gilt den sogenannten Bystandern, Personen oder Gruppen, die zumindest ein implizites Wissen über die Missbrauchsvorfälle im eigenen Umfeld hatten. Dazu zählen nicht nur Familienangehörige und Freund:innen, sondern auch kirchliches Personal. Die Macht- und Autoritätsposition des Priesters verhinderte meist Interventionen. Auch Therapeuten, Gesetzgeber und Strafverfolger – wobei hier gute persönliche Verhältnisse zwischen „Weihbischöfen, Regierungspräsidenten und Staatsanwälten“ (S. 439) oftmals zur Strafvereitelung führten – und Personalverantwortliche werden genauer untersucht. Wenn im Hinblick auf das vertuschende Handeln der Personalverantwortlichen von einer „organisierten Unverantwortlichkeit“ (S. 458) gesprochen wird – im Vergleich mit Reaktionen auf Tschernobyl, die Katastrophe der Duisburger Loveparade oder dem Hochwasser im Ahrtal –, dann wirkt das verharmlosend. Faktum ist doch, dass verantwortliche Bischöfe ihre Dienstaufsicht angesichts sexuellen Missbrauchs regelmäßig nicht wahrnahmen. Der Schutz der Institution und des Klerikerstandes stand im Vordergrund. Opferschutz spielte keine Rolle. Erst seit dem Jahr 2003 gab es mit der Ernennung eines Missbrauchsbeauftragten im Bistum Münster – angestoßen durch den Missbrauchsskandal in den USA – eine institutionelle Verankerung, die später zu einer bischöflichen Kommission ausgeweitet wurde. Die Zäsur des Jahres 2010 führte seit 2011 immerhin zu „Verfahren zur Anerkennung des Leids“, die finanzielle Leistungen für Betroffene vorsahen und auszahlten. Die Chance der Implementierung einer Verfahrensordnung wurde 2014 nicht wahrgenommen (vgl. S. 488). Es wird von „erzwungenen Lernprozessen“ seit den letzten 20 Jahren gesprochen, die nicht intrinsisch motiviert waren, sondern durch öffentlichen Druck verursacht wurden. Im kurzen vierten Teil geht es um „Pflichtenkreise und ihre Verletzung“, wobei fünf Pflichtenkreise unterschieden werden (Aufklärungs-, Anzeige-/Informationspflichten, Pflicht zur Sanktionierung und Verhinderungspflichten sowie Pflicht zur Betroffenenfürsorge). Inwiefern diese Pflichtenkreise verletzt wurden, wird daraufhin bei allen fünf der seit 1945 im Bistum agierenden Bischöfe untersucht. Kläglich versagte – nämlich mindestens bis zum Jahr 2009 – vor allem die Betroffenenfürsorge, die meist der Skandalvermeidung diente. Im Fazit wird ein katholisches Milieu dafür verantwortlich gemacht, die Grenzen des Sagbaren bestimmt zu haben und damit Missbrauch nicht nur nicht verhindert, sondern auch Scham und Sprachlosigkeit im Hinblick auf Sexualität befördert zu haben. Der Sittlichkeitskosmos des katholischen Milieus ließ Kinder zu leichten Opfern werden. Die Täter brauchten aufgrund ihrer Amtsstellung kaum Angst vor Aufdeckung zu haben. Die Haltung der Institution war somit „intrinsisch täterfreundlich“ (S. 536). Die Wächter schließlich – die Bischöfe – haben in ihrer Schutz- und Kontrollfunktion bis ins 21. Jahrhundert hinein versagt; sie haben „schwerwiegende Versäumnisse und Pflichtverletzungen“ (S. 537) zu verantworten. Ein zu konstatierender Rückgang der Missbrauchsfälle seit Mitte der 1980er-Jahre wird auf die Rückläufigkeit der Kirchenbindung und eine Aufweichung des katholischen repressiven Milieus zurückgeführt. Als bleibende Herausforderungen werden abschließend genannt, dass das Personal der katholischen Kirche Sensibilität für den Umgang mit Sexualität entwickelt, für das Verhältnis von Macht und Missbrauch und dafür auch das Kirchenrecht ändert sowie uneingeschränkt mit der Justiz und Strafverfolgungs- und Ermittlungsbehörden kooperiert. Bewusst bleiben muss: „Die Schuld der Kirche gegenüber den Betroffenen und deren Leid ist nach wie vor unabgegolten. […] Dazu gehört Wiedergutmachung, soweit möglich, die Bestrafung der Täter, wie sie das Gesetz vorsieht, und Prävention, um künftigen Verbrechen vorzubeugen.“ (S. 545)

Die Untersuchung stellt eine unverzichtbare (geschichts-)wissenschaftliche Pionierarbeit dar. Sie beschönigt nicht. Die autoritären und hierarchischen Machtstrukturen, die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche sowie ihr Selbstverständnis als gleichsam unfehlbare Institution mit einer vorbildlichen Ethik stellen ein Spezifikum dar, das andere Institutionen nicht für sich beanspruchen. Insofern wiegt der Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche besonders schwer. Dies thematisieren die Autor:innen im Fazit, das die Sakralisierung von Machtstrukturen als eine Ursache des Missbrauchs nennt. Dass andererseits andere Institutionen, wie Vereine, Schulen und Universitäten, noch vor ähnlichen Aufarbeitungen stehen, ist gewiss. Sexueller Missbrauch bleibt ein gesamtgesellschaftliches Problem, das eng mit Macht, Gewalt und Hierarchien verknüpft ist.

Anmerkungen:
[1] MHG-Studie vollständig einsehbar unter:https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf (24.01.2023).
[2] Zum Stand der Aufarbeitung vgl.https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/microsites/Sexualisierte_Gewalt_und_Praevention/Dokumente/2022-12-13-finale-Uebersicht-Aufarbeitung_web.pdf (24.01.2023).

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Claudia Prinz<prinzc@geschichte.hu-berlin.de>

URL zur Zitation dieses Beitrages
www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-129927