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Rez. Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe
Subject: Rez. Ex: Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe
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Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe
LWL-Museum Zeche Zollern, Dortmund, 44388 Dortmund (Deutschland)
14.06.2024 – 26.10.2025
Ausstellungsinformationen:
Nicht nur Hamburg oder Berlin, auch Westfalen hat viele Berührungspunkte mit dem Kolonialismus: Menschen aus der Region zogen als Missionare, Farmer oder Soldaten in die Kolonien. Unternehmer und Industrielle trieben die deutsche Kolonialpolitik voran, Kaufleute handelten mit Kaffee und Tee. Bürgerinnen und Bürger engagierten sich in Kolonial- und Missionsvereinen, gingen zu Völkerschauen, spendeten für Denkmäler oder benannten Straßen nach kolonialen Akteuren. Auch Menschen aus „Übersee“ lebten hier. Die Folgen des Kolonialismus wirken bis heute nach und prägen unsere Gesellschaft. Die Ausstellung „Das ist kolonial.“ baut auf Kooperationen und Ergebnissen einer partizipativen Werkstatt aus dem Jahr 2023 auf. Daraus entstandene Interviews, künstlerischen Arbeiten und Filme eröffnen neue Perspektiven und machen deutlich, wie Geschichte und Gegenwart miteinander verknüpft sind.
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Rezensiert für H-Soz-Kult von:
Jana Otto, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover /
Clémence Andréys, Université Marie et Louis Pasteur
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Wie lässt sich Kolonialgeschichte museal darstellen, ohne koloniale Meistererzählungen und rassistische Darstellungen zu reproduzieren? Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit dieser Frage. Hier reiht sich die Ausstellung „Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe“ ein, welche vom 14. Juni 2024 bis zum 26. Oktober 2025 in der Zeche Zollern in Dortmund zu sehen ist. Ziel der Kurator:innen ist es, die (post)kolonialen Verflechtungen der Region bis in die Gegenwart hinein zu beleuchten.
Dieser Ansatz ist im Prinzip nicht neu. Regionale koloniale Verbindungen bilden seit mindestens 25 Jahren eines der Kernthemen der deutschen Kolonialgeschichte. Häufig angeregt von zivilgesellschaftlichen Initiativen untersuchten Historiker:innen lokale „kolonialen Spuren“. Im Zentrum standen dabei meist Erinnerungsorte und lokale Akteur:innen, wie Kolonialbeamte oder Missionar:innen.[1] Auch in der Museumslandschaft ist die Thematik spätestens seit der Ausstellung „Decolonize München“ (Münchner Stadtmuseum 2013–2014) nicht mehr wegzudenken.[2] Diverse museale Institutionen widmeten den (post)kolonialen Verbindungen der jeweiligen Stadt und Region eigene Ausstellungen. Dabei kehrten sie der klassischen Ereignisgeschichte den Rücken, stattdessen legten sie den Fokus auf die Verflechtungen zwischen kolonialisierenden und kolonialisierten Gesellschaften sowie auf postkoloniale Kontinuitäten.
Das Dortmunder Ausstellungsteam greift diese postkoloniale Perspektive auf, geht aber noch einen Schritt weiter. Die Ausstellung orientiert sich nämlich am dekolonialen Anspruch, eurozentrisches Wissen nicht nur infrage zu stellen, sondern auch zu verlernen. Ziel ist es, marginalisierten Perspektiven Raum zu gegeben und bekannte Narrative zu hinterfragen. Um vielfältige Stimmen in die Ausstellung einzubeziehen, entschieden sich die Kurator:innen für einen partizipativen Prozess: Im Jahr 2023 luden sie das Publikum dazu ein, in einer mehrmonatigen Ausstellungswerkstatt die Inhalte und Darstellungsweisen der zukünftigen Ausstellung gemeinsam zu gestalten. Das Ergebnis dieses Prozesses ist eine Ausstellung, welche die langfristigen Auswirkungen des Kolonialismus ins Zentrum rückt. Dabei greifen die Kurator:innen durchgängig auf das aktuell etablierte Repertoire dekolonialer Präsentationen zurück: sie nutzen künstlerische Interventionen, um koloniale Narrative zu kontrastieren, zeigen nicht-weiße Personen als wichtige historische Subjekte und machen rassistische Begriffe und Darstellungen unkenntlich oder überlassen es den Besucher:innen, ob sie diese betrachten wollen.[3]
Die Ausstellung ist in vier Abschnitte gegliedert: „Handel Wirtschaft Industrie“, „Forschung Mission Auswanderung“, „Alltag Propaganda Kontinuitäten“ und „Widerstand Gedenken Postkolonialismus“. Alle vier Teile bieten sowohl einen thematischen Überblick als auch vertiefende Einblicke in konkrete Aspekte. Gleich zu Beginn werden die Besucher:innen eindrücklich mit der Aktualität des Themas konfrontiert. An Hörstationen beantworten Personen aus der Region die Frage: „Was hat Kolonialismus mit mir zu tun?“. Dabei wird zum einen deutlich, wie stark koloniale Kontinuitäten bis heute wirken, zum anderen zeigen die individuellen Geschichten, wie vielfältig postkoloniale Verbindungen in einer postmigrantischen Gesellschaft sind. Die dort präsentierten Stimmen stellen im Folgenden einen Leitfaden durch die Ausstellung dar. An den Schwellen zwischen den Abschnitten sind jeweils Fragmente dieser Statements zu hören.
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Abb. 1: Koloniale Kontinuitäten: Menschen aus Westfalen und Umgebung erzählen von den Auswirkungen des Kolonialismus auf ihr Leben
(© Clémence Andréys)
Der Fokus auf individuelle Perspektiven bildet insgesamt ein zentrales Gestaltungsmerkmal der Ausstellung. Jedes der vier Themen wird illustriert durch Kurzbiografien. Mithilfe dieser Beispiele zeigen die Kurator:innen en passant die Verschränkung kolonialer wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Effekte. Gleichzeitig ermöglicht es dieser Zugang, die agency kolonialisierter Personen hervorzuheben. Die Etablierung früher kolonialer Verbindungen wird beispielsweise anhand der Biografien von vier Afrikanern veranschaulicht, die ab dem späten 17. Jahrhundert als Bedienstete an westfälischen Adelshöfen lebten und sich – in der Regel erfolgreich – für die eigenen Interessen einsetzten.
Am meisten beeindruckt gleich der erste Abschnitt „Handel Wirtschaft Industrie“. Denn hier gelingt es den Kurator:innen, die „spezifische[n] Strukturmerkmale“[4] der kolonialen Beziehungen Westfalens aufzuzeigen und damit eine analytische Ebene zu berücksichtigen, die sonst museal oft vernachlässigt wird. Westfalen profitierte als Industrie- und Montanregion früh von der kolonialen Expansion. Westfälische Unternehmen exportierten unter anderem Kohle, Eisen und Stahl – insbesondere für den Eisenbahnbau in den Kolonien – oder auch Kanonen. Mit letzterem etablierte sich beispielsweise die Firma Krupp im 19. Jahrhundert. Der Dortmunder Hafen wurde gleichzeitig zum wichtigen Umschlagplatz für koloniale Rohstoffe. Die Beispiele zweier Textilfirmen, welche bedruckte Stoffe für den afrikanischen Markt herstellten, zeigen, dass diese wirtschaftlichen Verbindungen die formelle deutsche Kolonialherrschaft teils deutlich überdauerten: Bis in die 1960er-Jahre exportierten beide Unternehmen ihre Waren.
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Abb. 2: Stoffe für den afrikanischen Markt exportiert von westfälischen Unternehmen
(© Jana Otto)
Für die Besucher:innen aus der Region bietet die Ausstellung hier mit historischen Fotografien, Dokumenten und Produktbeispielen zahlreiche Momente des Wiedererkennens. Sie legt dabei die Erkenntnis nahe, dass die Industrialisierung der Region untrennbar mit der kolonialen Ausbeutung verwoben war. Dieses Wiedererkennen regionaler Bezüge ermöglicht auch eine digitale Installation im Zentrum der Ausstellung. Hier können Besucher:innen auf einer Karte interaktiv nach kolonialen Erinnerungsorten in der Region suchen.
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Abb. 3: Auf der Suche nach Spuren des Kolonialismus in Westfalen mithilfe einer digitalen Plattform
(© Clémence Andréys)
Weniger konkret erscheinen die regionalen kolonialen Verbindungen in den anschließenden Abschnitten. Diese thematisieren stärker allgemeine Aspekte kolonialer Herrschaft, dabei bleibt die Darstellung in Teilen oberflächlich. So zeigt der Abschnitt „Forschung Mission Auswanderung“ zwar diverse Objekte aus den Sammlungen der Rheinischen Mission und der Bethel-Mission, eine genauere Einordnung der missionarischen Tätigkeiten fehlt allerdings. Die Rolle der Missionen sei „ambivalent“ gewesen, lernen die Besucher:innen: Beteiligung an der kolonialen Expansion auf der einen Seite, Schulen und Krankenstationen auf der anderen Seite. Die tatsächliche Komplexität und Ambivalenz missionarischer Tätigkeit wird nur angedeutet. Gelungen sind hier die Kontrapunkte durch künstlerische Arbeiten. Besonders ragt das Werk „Aber wie fühlte sich Fatuma?“ von Sofia Nikoleizig heraus. Nikoleizig befragt einen Missionstext nach der Perspektive eines tansanischen Mädchens. So bereichernd die Kunstwerke auch sind, teilweise erschließt sich die Zuordnung zu den thematischen Abschnitten jedoch nicht ganz.
„Alltag Propaganda Kontinuitäten“ veranschaulicht mit zahlreichen Schulwandbildern, Spielen und Bilderbüchern koloniale Narrative in der Alltagskultur. Hier lässt sich fragen, ob die massive Präsentation rassistischer Bilder nicht der dekolonialen Intention zuwiderläuft. Denn auch wenn die Kurator:innen reichlich Milchglasfolie nutzen, um die Bilder (partiell) zu verdecken, so entfalten diese dennoch eine Wirkung, zumal die Abbildungen nicht aus jeder Perspektive verdeckt werden.
„Widerstand Gedenken Postkolonialismus“ gibt schließlich viele interessante Einblicke sowohl in den anti-kolonialen Widerstand in den Kolonien und in Deutschland als auch in postkolonialen Aktivismus. Bedauerlich ist, dass der Begriff „postkolonial“, der für das Konzept durchaus zentral ist, an keiner Stelle in seinen multiplen Bedeutungen erläutert wird.[5]
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Abb. 4: Marginalisierten Perspektiven Raum geben: Rückblick auf postkoloniale aktivistische Initiativen
(© Clémence Andréys)
Statt durch einen Katalog wird die Ausstellung durch verschiedene andere Medien ergänzt: eine Übersetzungs-App, ein aktiv bespielter Instagram- und TikTok-Account sowie ein Begleitheft für Kinder. Dieses bietet nicht nur gut verständliche Erklärungen, sondern stellt Bezüge zur heutigen Lebenswelt her. Verschiedene Stationen im Obergeschoss zeigen außerdem aktuelle künstlerische und aktivistische Perspektiven auf das Thema und bieten Raum für Feedback.
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Abb. 5: Einladung zum Dialog: Vielfältige Reaktionen der Besucher:innen auf die Ausstellung finden sich auf der Feedbackwand
(© Jana Otto)
Insgesamt belegt die für ein breites Publikum konzipierte Ausstellung eindrucksvoll die vielfältige Einbindung Westfalens in koloniale und postkoloniale Strukturen. Die Fülle historischer Quellen und Objekte, in der Regel aus regionalen Sammlungen, ist beeindruckend, stellt aber auch einen Schwachpunkt dar. Denn Menschen, die sich erstmalig mit der Thematik befassen, dürfte die Menge überfordern. Teilweise scheint die Auswahl der Exponate dem Wunsch nach Vollständigkeit geschuldet zu sein. Dies führt dazu, dass die Kurator:innen ihren eigenen dekolonialen Anspruch in Teilen selbst konterkarieren. Nichtsdestotrotz gelingt es dieser empfehlenswerten Ausstellung, zur persönlichen Auseinandersetzung mit postkolonialen Strukturen einzuladen. Davon zeugen nicht zuletzt zahlreiche Kommentare der Besucher:innen.
Anmerkungen:
[1] Für einen Überblick vgl. Caroline Authaler / Yagmur Karakis / Stefanie Michels, Zur Möglichkeit und Unmöglichkeit gleichberechtigter Forschung über Regionen und Kolonialgeschichte, in: Geschichte und Region 32 (2023), S. 106–115.
[2] Fabian Fechner / Barbara Schneider (Hrsg.), Fernes Hagen. Kolonialismus und wir, Hagen 2023, hier S. 78–83.
[3] Vgl. u.a.: Csilla E. Ariese / Magdalena Wróblewska (Hrsg.), Practicing Decoloniality in Museums. A Guide with Global Examples, Amsterdam 2022; Brücke-Museum u.a. (Hrsg.), Das Museum dekolonisieren. Kolonialität und museale Praxis in Berlin, Bielefeld 2022.
[4] Johannes Paulmann, Regionen und Welten. Arenen und Akteure regionaler Weltbeziehungen seit dem 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 660–699, hier S. 665.
[5] Vgl. Ulrike Schaper, Deutsche Kolonialgeschichte postkolonial schreiben: Was heißt das?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019), Heft 40–42, S. 11–16,https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/297593/deutsche-kolonialgeschichte-postkolonial-schreiben-was-heisst-das/ (02.05.2025).
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Irmgard Zündorf<zuendorf@zzf-potsdam.de>
URL zur Zitation dieses Beitrages
www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-152888
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