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Aufsatz
Migration dt.-polnischer Arbeiter aus dem Ruhrgebiet nach Frankreich 1922-1925

Friedrichs, Anne. „Multiperspektivität als Schlüssel zur Kontingenz von Zugehörigkeit. Der organisierte Umzug von deutsch-polnischen Arbeitern und ihren Familien aus dem Ruhrgebiet nach Frankreich von 1922 bis 1925“, in:/Historische Zeitschrift/, Bd. 313, H. 3, 2021, S. 645-685.

Seit dem kurzen „Sommer der Migration“ 2015 sind Fragen, ob, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen Zugezogene Teil der Gesellschaft oder bloß zeitweise geduldete Arbeitskräfte, Geflohene oder Asylsuchende sind, in der Politik und Öffentlichkeit wieder heftig umstritten. Dahinter wiederum steckt die tiefer greifende Frage, nach welchen Kriterien gegenwärtig wie historisch die Zugehörigkeit zu einer „Gesellschaft“ bemessen wird. Anknüpfend an neuere, relational vorgehende Ansätze zur Analyse von menschlicher Mobilität befasst sich der Aufsatz mit dem organisierten Umzug von deutsch-polnischen Arbeitern und ihren Familien aus dem Ruhrgebiet nach Frankreich zu Beginn und während der Ruhrbesetzung. Er zeigt auf der Ebene der historischen Interpretation, dass eine Untersuchung des Ruhrgebiets als eines von Mobilität geprägten Wirtschaftsraums geeignet ist, um – aufbauend auf den geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zu Grenzregionen wie dem Elsass, Oberschlesien und Böhmen – verschiedene Formen zu erfassen, wie und mit welchen Konsequenzen sich Zugehörigkeitskonstruktionen unter den Bedingungen umstrittener staatlicher Souveränitäten etwa im Zuge des Ersten Weltkriegs oder der Auflösung der europäischen Imperien verändert haben. Zweitens wird auf methodologischer Ebene argumentiert, dass eine multiperspektivische Analyse besonders aufschlussreich ist, um Vorgänge zur Kategorisierung und Neuverortung von Menschen genauer zu erfassen und ihr Zusammenwirken auch in Hinsicht auf ihre langfristigen Auswirkungen auf die Kategorisierten besser zu verstehen. Im Kontext der Bemühungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften, Zugehörigkeiten primär biographisch und situativ zu erfassen, können Historikerinnen und Historiker auf diese Weise dazu beitragen, das Ineinandergreifen von Selbstverortungen einerseits und organisierten, häufig rechtlich bindenden Zuordnungsvorgängen andererseits zu diskutieren und verschiedene Zugehörigkeitskonstruktionen zu historisieren.