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Lutz Niethammer verstorben

Der Sozial-, Kultur- und Politikhistoriker Lutz Niethammer ist am 29. Juli 2025
gestorben

Lutz Niethammer, geboren am 26. Dezember 1939 in Stuttgart als Sohn
eines Grafikers und einer Malerin und Grafikerin, studierte in
Heidelberg, Bonn, Köln und München evangelische Theologie, später
Geschichte und Sozialwissenschaften. 1971 promovierte er bei Werner
Conze in Heidelberg mit der Studie „Entnazifizierung in Bayern“ zur
deutsch-amerikanischen Nachkriegsgeschichte.

Er arbeitete als Wissenschaftlicher Assistent 1968-1972 im Fachbereich
Neuere Geschichte bei Hans Mommsen an der Ruhr-Universität Bochum und
wurde 1973 Professor an der Universität Essen, wo er 1981 und 1982
Konrektor für Studium und Lehre war. Von 1983 bis 1989 war er Leiter des
Arbeitsbereiches Neuere Geschichte an der FernUniversität. 1989 war er
Gründungsbeauftragter und erster Präsident des Kulturwissenschaftlichen
Instituts in Essen. Seit 1993 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005
hatte er den Lehrstuhl für Neue und Neueste Geschichte an der
Universität Jena inne. Er hatte Gastprofessuren in Oxford, Paris, York,
Berlin und Florenz. Seit Als Sachkenner beriet er die Bundesregierung
zur Zwangsarbeiterentschädigung.

Sein wissenschaftliches Interesse galt vor allem der europäischen und
deutschen Nachkriegsgeschichte, aber auch dem 19. Jahrhundert. In
Deutschland und international ist Niethammer bekannt für seine
Erforschung der Gesellschafts- und Erfahrungsgeschichte. Das 1980 unter
Leitung von ihm an der Universität/Gesamthochschule Essen begonnene,
dann an der FernUniversität in Hagen fortgeführte Projekt
„Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960“ (LUSIR)
dokumentierte detailliert die Lebensbedingungen und Mentalitäten der
Menschen in dieser Zeit. Dieses war das erste großangelegte
Oral-History-Projekt in der Bundesrepublik Deutschland. Auf Basis von
rund 350 Interviews mit Angehörigen typischer Bevölkerungsgruppen aus
der Wirtschaft, dem Mittelstand und der Arbeiterschaft des Ruhrgebiets
wurden Faschismuserfahrungen sowie deren Verarbeitung und Bedeutung als
Vorgeschichte der Nachkriegszeit untersucht. Für die Entwicklung der
Forschungsmethode der Oral History in Deutschland setzte das Projekt
Maßstäbe, die bis heute gültig sind.

Zudem förderte Lutz Niethammer die Forschung zum Alltag und engagierte
sich früh beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Seine Arbeit
beeinflusste zahleiche Historikerinnen und Historiker. Er war in
verschiedenen Gremien aktiv, etwa bei der Bauhütte Zollverein und der
Internationalen Bauausstellung Emscherpark, und war u. a. Foreign
Honorary Member der American Academy of Arts and Sciences, Träger des
Bochumer Historikerpreises 2002, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats
des Instituts für Diaspora- und Genozidstudien an der Ruhr-Universität
Bochum sowie des Beirats der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“.

Lutz Niethammer starb gestern am 29. Juli in Berlin. Das Forum
Geschichtskultur an Ruhr und Emscher verdankt ihm gewisermassen seine
Existenz, weil dessen Gründung auf einen Anstoß von Karl Ganser und Lutz
Niethammer zurückgeht. Inhaltlich hat er die historische Sichtweise auf
das Ruhrgebiet entscheidend erneuert und nachhaltig geprägt.