Mailingliste

CFP
Grenzgängerin. Die Reportage-/literatur als entgrenztes Medium der Öffentlichkeitsgestaltung

CFP: *Grenzgängerin. Die Reportage-/literatur als entgrenztes Medium der
Öffentlichkeitsgestaltung*
Deadline: 24.05.2024

Die Reportage und die Reportageliteratur sind Medien des
Dazwischenstehens, des Dazwischentretens – des Intervenierens und der
Intervention. Nicht nur stehen sie durch ihre journalistische
Faktenbasiertheit und ihre literarischen Qualitäten zwischen zwei Modi
der Wirklichkeitsbetrachtung und -verarbeitung, sondern sie agieren auch
selbst an Grenzen, an denen sie als Medium der Entdeckung und Aufdeckung
Grenzen der Öffentlichkeit verschieben, zuvor Verdecktes ins Licht der
Öffentlichkeit und zur Diskussion stellen, sowie marginalisierten
Personenkreisen Stimmen und Gesichter verleihen. Dabei richten sie den
Blick auf das Verdeckte, von der breiten Öffentlichkeit un- oder weniger
gesehene. Sie fungieren somit als Medien der Demokratisierung von
Öffentlichkeit(en) zwischen Journalismus und Literatur, deren Normen sie
in ihrer Genese stetig herausgefordert haben.

Bereits Ende der 1920er-Jahre beginnt im Kontext der Neuer Sachlichkeit
und der Realismus-Debatte in der Weimarer Republik eine Diskussion um
die Reportage und die Reportageliteratur (Michael Haller 2020).
Linksintellektuelle wie Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Georg
Lukács äußern Zweifel und Kritik an der Reportageliteratur und ihrer
fehlenden „politisch-emanzipatorischen Wirksamkeit“, die wiederrum u. a.
auf fehlende epistemologische Möglichkeiten und eine Vermischung von
wissenschaftlichen und literarischen Erkenntnismethoden zurückzuführen
sind (Stephanie Marx 2020). Schriftsteller*innen und Journalist*innen
der 20er- und 30er-Jahre – wie die in der Weimarer Republik tätigen Egon
Ewin Kirsch und Gabriele Tergit, die Österreicher Max Winter und Joseph
Roth sowie die russisch-/sowjetische Schriftstellerin Larissa Reissner –
stehen dabei in einer langen Tradition. Vorgänger*innen der
Reportage-Autor*innen sind dabei Schriftsteller*innen, die sich bereits
im 19. Jahrhundert an der Grenze zwischen Literatur und Journalistik
bewegen, wie Heinrich Heine und Ludwig Börne, aber auch Autor*innen, die
Milieurecherchen und Sozialreportagen durchführten, wie William Thomas
Stead, Friedrich Engels und Georg Weerth (Michael Haller 2020). Im
englisch- und französischsprachigen Raum können hingegen Autoren wie
Mark Twain, Charles Dickens, Ernest Hemingway und Émile Zola als
Vorreiter bezeichnet werden (Hannes Haas / Gian-Luca Wallisch 1991).

Akribische Recherche und Quellensuche sowie die Entwicklung von
Verfahren zur „Überwindung von Recherchebarrieren“ zeichnet die
Reportage und ihre Reporter*innen aus (Hannes Haas 1987). In den
1960er-/70er-Jahren kommt es dann sowohl in den USA als auch in
Deutschland zu einer Anknüpfung an die Tradition der Reportage bzw.
Reportageliteratur. Hierbei stellt sich betont die Grenzstellung
zwischen Literatur und Journalistik heraus. Während in den USA der New
Journalism rund um Tom Wolfe, Truman Capote und Norman Mailer ein neues
Verständnis von Objektivität entwickelt und objektivierbare Recherchen
mit subjektiven Eindrücken und narrativen Elemente verbindet – wobei
journalistische Formen mit literarischen Erzählverfahren verknüpft
werden und sich teile des Journalismus den literarischen Verfahren
annähern –, kommt es in Deutschland zu einer umgekehrten Bewegung.
Schriftsteller wie Günter Wallraff und Erika Runge prägen ab Mitte der
1960er-Jahren die Literatur der Arbeitswelt durch dokumentarische
Verfahren und journalistische Recherche- und Montagemethoden und führen
zu einer Annäherung von Teilbereichen der literarischen Öffentlichkeit
an eine journalistische Praxis. Es entstehen ab den 1960er erneut
Reportageromane bzw. Tatsachenromane, die sich ähnlich wie ihre
Vorläufer in den 1920er/30er-Jahren vor allem dem Betriebsalltag der
Arbeitenden widmen. Dabei ist es in der breiten Öffentlichkeit allen
voran Günter Wallraff, der mit der Annahme von Rollen und dem verdeckten
Eindringen in Betriebsöffentlichkeiten gesellschaftliche Missstände
enthüllt, Öffentlichkeit schafft und ähnlich wie viele seine
Vorgänger*innen im mehrfachen Sinne als Grenzgänger bezeichnet werden kann.

Die zeitgenössische Reportage, erwachsen aus faktizierenden
Augenzeugenberichten und schildernden Erlebnisberichten, vermittelt
zwischen Ereignissen und Erlebnissen (Michael Haller 2020). Gerade
aufgrund dieser Position des Dazwischens kann sie als textueller
Möglichkeitsraum zwischen Literatur und Journalistik, Subjektivität und
Objektivität, Faktizität und Narration fungieren, vermag es, „soziale
Distanzen und institutionelle Barrien zu überwinden, um hinter die
Fassade zu blicken“ und dies ästhetisch, stilistisch, rhetorisch und
dramaturgisch zu organisieren (Michael Haller 2020). Damit zeigen
Reportage und Reportageliteratur auf die blinden Stellen außerhalb der
Öffentlichkeit, ziehen sie ins Blickfeld und ermöglichen eine
Offenlegung bislang nicht in Betracht gezogener Erfahrungen. Sie
fungieren damit als journalistisches wie literarisches Medium der
Herstellung und Pluralisierung von (Gegen‑)Öffentlichkeit(‑en) in der
demokratischen Gesellschaft.

Der interdisziplinär ausgerichtete eintägige Workshop heißt Beiträge aus
der gesamten Breite der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften
willkommen, die sich der Reportage und Reportageliteratur aus diachroner
oder synchroner Perspektive widmen und ihr Verhältnis zu
Öffentlichkeit(en) perspektivieren. Arbeitssprache ist Deutsch,
englischsprachige Beiträge sind jedoch auch willkommen.

Ein *Abstract* von etwa 400 Wörtern und ein kurzes akademisches CV
können*bis zum 24. Mai 2024* an h.podulski@fu-berlin.de gesendet werden.
Eine Rückmeldung erfolgt bis Mitte Juni. Die Kosten für Reise und
Unterkunft werden für die Vortragenden übernommen.
Organisation: Iuditha Balint (Fritz-Hüser-Institut für Literatur und
Kultur der Arbeitswelt) und Henning Podulski (Sonderforschungsbereich
1512 Intervenierende Künste; Freie Universität Berlin). Finanzierung: 
Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt (Dortmund)
und Sonderforschungsbereich 1512 Intervenierende Künste (gefördert durch
die Deutsche Forschungsgemeinschaft). In Kooperation mit dem
Bildungswerk Vielfalt e. V.

/Veranstaltungsort/
LWL-Museum Zeche Zollern in Dortmund am 24. Oktober 2024