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Rez. J. Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980

*Übernommen von H-Soz-Kult*

From: Lorenzo Bonoli

Subject: Rez. HBO: J. Kellershohn: Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980
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Kellershohn, Jan, Die Politik der Anpassung. Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980. Köln 2021: Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-52249-0; 475 S.; € 65,00

Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Lorenzo Bonoli, Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung – EHB, Zollikofen

Das Buch von Jan Kellershohn basiert auf einer Doktorarbeit an der Universität Bochum; es zeichnet die Entwicklung der Diskurse um Arbeit, Bildung und Wissen zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren nach. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die These, dass sich in diesem Zeitraum das Verhältnis zwischen Arbeit, Wissen und Bildung grundlegend unter dem Einfluss eines neuen Credos verändert hat: das Credo der Mobilität und der Anpassungsfähigkeit.

Ausgangspunkt der Analyse ist ein umfangreiches Korpus von Quellen über die Situation des Bergbausektors im Ruhrgebiet und in Frankreich zur Zeit der Krise und des Niedergangs dieses Industriezweigs. Die Quellen gehen jedoch weit über diese beiden Regionen hinaus und ermöglichen es dem Autor, den Blick auf die Situation in Westdeutschland als Ganzes zu erweitern. Unter diesem Gesichtspunkt bietet der Text eine sehr fundierte Analyse der Veränderungen im Diskurs um die Berufsbildung, mit einer bemerkenswerten Auswahl an Zitaten und einer ebenso bemerkenswerten Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur.

Das Ergebnis ist ein Buch, das eine beeindruckende Anzahl von Themen mit Schwerpunkt auf der sich verändernden Beziehung zu Arbeit, Wissen und Bildung behandelt. Ein Werk, das auf verschiedenen Ebenen gelesen werden kann, indem man einem der vielen angebotenen roten Fäden folgt.

Die Titel der beiden Teile des Buches weisen auf einen der wichtigsten roten Fäden des Buches hin: den Übergang von einem Diskurs über Bildung, der sich auf die Eingliederung konzentriert, zu einem Diskurs über Bildung, der sich auf die Anpassung konzentriert, und dann in einem zweiten Schritt von einem Diskurs der Anpassung zum Diskurs des Ausschlusses.

Kellershohn zeigt präzise, wie bis in die 1950er-Jahre die Beziehung zwischen Arbeit, Wissen und Bildung von der Idee geprägt war, dass jeder Mensch die Arbeit finden kann, die seinen Fähigkeiten am besten entspricht, und dass die Bildung in erster Linie die Funktion hatte, den Arbeitnehmer einzugliedern – in einer beruflichen, aber auch einer „moralisch-holistischen“ Perspektive, die von einem Willen zur sozialpolitischen Stabilisierung der Gesellschaft geprägt war: Im Zentrum dieser Logik war die Ausbildung ein Instrument zur Förderung von „Sesshaftigkeit, Stabilität und Moral” (S. 390).

Ab den 1950er-Jahren erschien im Kontext der wirtschaftlichen Erholung nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Druck der Krise im Bergbausektor sowie der Notwendigkeit, eine große Anzahl von Arbeitern umzuschulen, allmählich ein neuer Diskurs. Nicht mehr ein Bildungsdiskurs, der auf Eingliederung und Stabilität abzielte, sondern ein Diskurs, der sich auf Begriffe wie „Mobilität, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit” (S. 390) konzentrierte. Das Konzept der Mobilität wendete sich allmählich von einem gefährlichen klassenkämpferischen Konzept zu einer weithin geschätzten Idee, oder mit den Worten von Kellershohn:

“Mobilität, vormals verheißungsvolles Programm der individuellen Überwindung der Klassengesellschaft, wurde nun deskriptive Masse und normative Anforderung, über die der wissenspolitische Imperativ wirkte. Der Begriff ‘Erstarrung’ ist ebenso zu vermeiden wie ‘Entwurzelung’ und ‘Belanglosigkeit’. Eine Perspektive, die auf Gleichgewicht und Eingliederung abzielte, wich in den 60er Jahren einer Perspektive, die die Mobilität in einer Steigerungslogik begriff. Diese Verschiebung setzte eine neue Suche nach der Anthropologie des mobilen wie mobilisierbaren Individuums in Gang.” (S. 76)

Der Übergang von einer Ausbildungslogik der Eingliederung zu einer Logik der Mobilität und Anpassungsfähigkeit ist ein zentrales Element in der Geschichte der Berufsbildung. Kellershohn bietet hier eine breite Grundlage zur besseren Beschreibung und zu einem besseren Verständnis dessen, wie zentrale Begriffe, die heute in unserem Diskurs über die Ausbildung eine zentrale Rolle spielen, Gestalt angenommen haben. Wie der Autor aufzeigt, wurde es ab dieser Periode normal, davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer sich an die Arbeitsanforderungen anpassen muss, dass die technologische Innovation auch von bereits ausgebildeten Personen eine ständige Anpassung erfordert und dass die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Kompetenz letztendlich beim Individuum selbst liegt. Dieser Übergang zu einer Verantwortung des Individuums für seine Anpassungsfähigkeit führt uns zum zweiten Teil des Buches: von der Anpassung zum Ausschluss.

Der Text zeigt, dass gleichzeitig mit der Entwicklung des Diskurses um Anpassungsfähigkeit und Mobilität auch ein Wille zur Unterscheidung und damit zum Ausschluss all derer entstand, die nicht mobil waren und keine Anpassungsfähigkeit aufwiesen. So tauchen zwei Figuren auf, der „alte Arbeiter” und der „Lernbehinderte”, zwei Figuren, die die Verlierer dieses Diskurswechsels symbolisieren: Personen, die nicht oder nicht ausreichend „ausbildbar” sind, um den neuen Imperativen der Mobilität und der Anpassung zu gehorchen. Es wird deutlich, dass die neue Logik der Mobilität zwar sozusagen eine gewisse Starrheit der alten Klassengesellschaft durchbrach und auch den Weg für die meritokratische Logik ebnete, dass sie gleichzeitig aber von Anfang an eine neue soziale Diskriminierung einführte:

„In der Arbeitswelt der Zukunft würde es diejenigen geben, die als ‘unternehmerisches Selbst’ die erforderliche Anpassungsfähigkeit an den Tag legen – und diejenigen, die dazu nicht fähig sein würden. Die Grenze war zwar verhandelt und verschiebbar; dass es sie aber gab, galt spätestens im Jahr 1979 als wahr.” (S. 388)

Trotz der interessanten Fragestellung und der detaillierten Quellenanalyse zeigt das Buch auch einige Schwächen. Einerseits ist der breite Umfang der Analyse und der herangezogenen Quellen zweifellos eine Stärke des Textes, andererseits stellt er aber auch eine Schwäche dar. Der Text eröffnet zu viele Lesewege und geht manchmal zu sehr auf die Details der einzelnen Quellen ein. Dies erschwert die Lektüre und kann dazu führen, dass selbst die aufmerksamsten Leser:innen den Faden der Argumentation (oder der vielen Argumentationen) verlieren.

Andererseits ist es überraschend, dass in einem so gut dokumentierten Text mit einer so umfangreichen Bibliographie zentrale Studien zur Geschichte der Berufsbildung abwesend sind.[1] Entsprechende Verweise hätten die Analyse zweifellos gestärkt, durch eine Gegenüberstellung mit den Ergebnissen der Analyse ähnlicher Themen und Quellen durch andere Forscher, und, im Vergleich mit anderen Rekonstruktionen aus demselben Zeitraum, ihren Wert erhöht. Aus einer ähnlichen Perspektive ist es schade, dass der Text den methodologischen Ansatz, der sich auf eine Wissensgeschichte und eine Anthropologie der Arbeit (vgl. S. 27) bezieht, nicht besser erläutert. Was besser erklärt werden könnte, ist genau das, was methodologisch im Mittelpunkt der Analyse steht. Während man an einigen Stellen den Eindruck hat, dass der Autor eine „Diskursanalyse” durchführt, mit „Diskursen” als Sprachproduktionen im Mittelpunkt, stehen an anderen Stellen eher „Politiken”, „Strukturen” oder „Logiken” im Mittelpunkt der Analyse. Eine explizitere Anwendung eines methodologischen Ansatzes zur Interpretation der Quellen hätte es erleichtert, den Analysen des Autors zu folgen. In diesem Zusammenhang hätte, zum Beispiel, ein ausdrücklicher Verweis auf Foucaults Konzept der „Ordnung des Diskurses” und auf die aktuelleren Entwicklungen der Diskursanalyse im Bereich der Geschichte dazu beigetragen[2], den Ansatz des Autors besser einzuordnen.

Trotz dieser Einwände bietet die Lektüre der 475 Seiten den Leser:innen eine Fülle von Informationen über den Kontext der damaligen Zeit und ermöglicht ein besseres Verständnis bestimmter Trends, insbesondere der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, die auch heute noch die Welt der Arbeit und der Berufsbildung beeinflussen.

Anmerkungen:
[1] Z.B. Wolf-Dietrich Greinert, Das „deutsche System“ der Berufsausbildung. Geschichte, Organisation, Perspektiven, Baden-Baden 1993; Philipp Gonon, Arbeit, Beruf und Bildung, Bern 2002; Günter Pätzold / Holger Reinisch / Manfred Wahle, Ideen- und Sozialgeschichte der beruflichen Bildung. Entwicklungslinien der Berufsbildung von der Ständegesellschaft bis zur Gegenwart, Baltmannsweiler 2015.
[2] Michel Foucault, L’ordre du discours, Paris 1971; Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2009.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Philipp Eigenmann<philipp.eigenmann@phtg.ch>

URL zur Zitation dieses Beitrages
www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-114589

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn).